In Friedrichshain-Kreuzberg werden weitere Stolpersteine verlegt. Mit Stolpersteinen wird am letzten freiwillig gewählten Wohnort an Menschen erinnert, die von den Nationalsozialisten verfolgt wurden – im Bezirk sind es bereits mehr als 1.050 Stolpersteine.
Wann? 16. Oktober 2024, 11:05 Uhr bis 14:05
Wo? verschiedene Orte im Bezirk, Beginn in der Mollstr. 31-32
Mit der Verlegung von fünf Stolpersteinen 11:05 Uhr in der Mollstraße 31-32 wird an Moses, Baisia Bertha, Alfred, Herbert und Margot Blum erinnert.
Moses Blum kam 1887 in Mościska in Galizien (damals Habsburgerreich, heute Westukraine) in einer jüdischen Familie zur Welt. Er erlernte den Beruf des Kaufmanns und übersiedelte zu einem unbekannten Zeitpunkt nach Berlin. 1920 heirateten er und die jüdische Geschäftsinhaberin Bertha Baisia Entner (*1894 in Radymno/Galizien). Sie bekamen drei Kinder: Margot (*1924), Alfred (*1926) und Herbert (*1928).
Seit Anfang der 1930er Jahre wohnte die Familie in der Gollnowstraße 42 (entspricht heute etwa der Adresse Mollstraße 31-32). Das Ehepaar Blum betrieb mit mehreren Angestellten ein Lebensmittel- und Delikatessengeschäft.
Moses Blum wurde am 28. Oktober 1938 im Rahmen der sogenannten „Polenaktion“ aufgrund seiner polnischen Staatsangehörigkeit verhaftet, über die polnische Grenze nach Zbąszyń abgeschoben und dort interniert. Im August 1939 leisteten auch Bertha und die Kinder, die ebenfalls polnische Staatsangehörige waren, ihrer Ausweisung aus Deutschland Folge: Margot wanderte mit einem Kindertransport nach England aus. Bertha und die beiden Söhne folgten Moses Blum nach Zbąszyń. Die Hoffnung, Alfred und Herbert von Polen aus ebenfalls nach England schicken zu können, sollte sich nicht mehr erfüllen. 1940 lebte die Familie in Lublin, später zogen sie in Moses Blums' Geburtsstadt Mościska. Von dort erhielt die Tochter Margot in England 1942 das letzte Lebenszeichen, danach verliert sich die Spur ihrer Eltern und Brüder. Sie wurden zu einem unbekannten Zeitpunkt ermordet.
Für Irma und Ruth Beatrice Springer wurden zwei Stolpersteine in der Friedrichstr. 243, vor dem Theodor-Wolff-Park verlegt.
Irma Springer wurde 1901 in Berlin in einer jüdischen Familie geboren. Sie heiratete 1924 den jüdischen Kaufmann Siegbert Springer (*1901 in Berlin) und bekam mit ihm 1925 die Tochter Ruth Beatrice.
Siegbert Springer betrieb ein Leihhaus in der Friedrichstraße 243, wo die Familie auch wohnte. Das Gebäude existiert nicht mehr; heute befindet sich dort der Theodor-Wolff-Park. Irmas Ehemann verstarb 1930 mit nur 29 Jahren. Sie führte fortan das Leihhaus allein weiter.
Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten begann die zunehmende Entrechtung und Verfolgung von Jüdinnen*Juden. Irma und Ruth Beatrice Springer mussten Wohnung und Geschäft in der Friedrichstraße aufgeben. Ende der 1930er Jahre lebten sie in Wilmersdorf: Zunächst im Bechstedter Weg 19, seit Mai 1941 bewohnten sie als Untermieterinnen ein Zimmer in der Uhlandstraße 49. Irma Springer musste Zwangsarbeit bei der Firma Blaupunkt in der Hedemannstraße leisten.
Irma und Ruth Beatrice Springer wurden Mitte November 1941 in die Synagoge Levetzowstraße in Moabit verschleppt, die kurz vorher zum Sammellager umfunktioniert worden war. Vom Bahnhof Grunewald wurden sie am 17. November 1941 mit dem sogenannten „6. Osttransport“ nach Kowno (Litauen) deportiert, wo sie nach 4 Tagen ankamen. Irma und Ruth Beatrice Springer wurden dort am 25. November 1941 erschossen.
Auf Wunsch der Angehörigen wurde diese Verlegung nicht öffentlich vorab angekündigt.
Zur Erinnerung an Siegfried, Berta und Horst Nossen werden 11:50 Uhr in der Jessnerstraße 10 Stolpersteine verlegt.
Der jüdische Zigarrenmacher Siegfried Nossen (*1890 in Wronke/ damals preußische Provinz Posen) heiratete 1918 in Berlin die verwitwete Berta Geismar, geb. Feige (*1889 in Hildesheim).
1919 brachte Berta den Sohn Horst zur Welt, der offenbar ein „Frühchen“ war: Er wurde erst mit sieben Monaten aus dem Krankenhaus nach Hause entlassen und blieb in seiner geistigen Entwicklung zurück. Horst besuchte die Hilfsschule, absolvierte eine Lehre als Bootsbauer und arbeitete anschließend als Tischler. Seit 1925 wohnte die Familie in einer 2-Zimmer-Wohnung in der Kronprinzenstraße 4 (heute Jessnerstraße 10).
1939 ging Horst Nossen mit einer „arischen“ Frau eine Beziehung ein, was nach den damaligen Gesetzen verboten war. Am 23. August 1940 wurde er vom Landgericht Berlin wegen sogenannter „Rassenschande“ zu einer Zuchthausstrafe von 1 1/2 Jahren verurteilt. Zunächst war er im Zuchthaus Brandenburg-Görden inhaftiert, Ende Mai 1941 wurde Horst Nossen in das an der niederländischen Grenze gelegene Strafgefangenen-Lager Neusustrum verschleppt. Es gehörte zu den berüchtigten „Emslandlagern“. Die Gefangenen mussten hier unter schlechtesten Bedingungen Arbeiten im Moor verrichten. Horst Nossen kam dort am 25. November 1942 ums Leben.
Seine Eltern Siegfried und Berta Nossen waren bereits am 19. Januar 1942 mit dem sogenannten „9. Osttransport“ von Berlin in das Ghetto Riga deportiert worden. Hier verliert sich ihre Spur. Sie wurden zu einem unbekannten Zeitpunkt ermordet.
13:25 Uhr werden in der Neuenburger Straße 1 Stolpersteine zur Erinnerung an Martha, Hildegard und Tana Mamlok sowie Rosa Peiser verlegt.
Die Familie Mamlok lebte bis zu ihrer Deportation in der Neuenburger Str. 3 in Kreuzberg nahe des Belle-Alliance-Platzes (heute Mehringplatz). Dieses Haus gibt es heute nicht mehr, es wurde im Zweiten Weltkrieg bei einem Luftangriff der Alliierten zerstört.
Martha, geb. Peiser (*1884) heiratete 1912 in Posen Albert Mamlok (*1878). Nach der Heirat zogen die beiden nach Berlin. Ihr Ehemann führte gemeinsam mit seinem Bruder Julius Mamlok (1881-1933) eine Filiale der Breslauer Firma Mamlok & Söhne Wein und Spirituosen in Berlin-Mitte in der Chausseestr. 34. Die Familienfirma bestand als Aktiengesellschaft bis 1932. Die Familie Mamlok wohnte zu dieser Zeit in der Nähe des Geschäfts. Albert und Martha Mamlok hatten zwei Töchter: Hildegard, genannt Hilde (*1912) und Eva (*1918). Nachweisbar wohnten sie ab 1916 in der Neuenburger Str. 3.
1936 starb Albert Mamlok, sein Bruder Julius war bereits 1933 gestorben. Martha führte von 1932 bis zur Reichspogromnacht im November 1938 im Souterrain der Neuenburger Str. 3 eine Weinhandlung.
Marthas Schwester Rosa Peiser (*1885 in Posen) kam 1922 von Posen nach Berlin. Sie zog vermutlich 1936 zu ihrer verwitweten Schwester und ihren Töchtern Hilde und Eva.
Hildegard Mamlok musste Zwangsarbeit leisten, obwohl sie an Tuberkulose erkrankt war. Sie starb am 11. Dezember 1941, vermutlich an den Folgen der Arbeitsbedingungen und mangelnder medizinischer Versorgung.
Ihre Schwester Eva (*1918) war seit frühester Jugend in der sozialdemokratischen Jugendbewegung und aktiv gegen die Nazis. Im November 1934 wurde sie verhaftet und ins Frauen-KZ Moringen gebracht, wo sie bis Mai 1935 interniert war. Am 3. September 1939 wurde ihre Tochter Tana geboren. Die Identität von Tanas Vater ist nicht überliefert. Ab 1940/41 musste auch Eva Zwangsarbeit leisten. Ende September 1941 wurde Eva Mamlok, die weiter in einer Widerstandsgruppe tätig war, verhaftet, weil sie verbotene Bücher an nichtjüdische Arbeiter verliehen hatten. Am 13. Januar 1942 wurde Eva Mamlok mit über 1000 anderen jüdischen Berliner:innen nach Riga deportiert. Dort leistete sie weiter Zwangsarbeit, aber war auch weiterhin im Widerstand aktiv. Eva Mamlok starb am 23. Dezember 1944 im KZ Stutthof, wohin sie nach Auflösung des Rigaer Ghettos überstellt worden war. An Eva Mamlok und ihre Frauen-Widerstandsgruppe erinnerte im Sommer 2024 eine Ausstellung im FHXB Museum (“Gruppe Eva Mamlok: Widerstandsgeschichten”).
Martha Mamlok wurde zusammen mit ihrer Schwester Rosa Peiser am 19. Oktober 1942 aus Berlin ebenfalls nach Riga deportiert und dort nach der Ankunft am 22. Oktober 1942 ermordet. Evas dreijährige Tochter Tana Mamlok blieb spätestens nach der Deportation der Großmutter alleine in Berlin, im Jüdischen Waisenhaus in der Schönhauser Allee. Nach der zwangsweisen Auflösung des Waisenhauses wurde Tana am 29. November 1942 nach Auschwitz-Birkenau deportiert und ermordet.
Für Eva Mamlok liegt bereits seit 2011 ein Stolperstein in der Neuenburger Straße 1.
Am Fraenkelufer 36 wird mit zwei Stolpersteinen 14:05 Uhr Hermann und Paula Pazer gedacht.
Hermann Pazer kam 1884 in Warschau, das damals zum russischen Kaiserreich gehörte, in einer jüdischen Familie zur Welt. Er erlernte den Beruf des Kaufmanns. 1911 heirateten er und Paula Reinfeld (*1888 in Warschau). Sie bekamen zwei Kinder Josef (*1911) und Romana (*1915).
Hermann Pazer betrieb in Warschau ein Textilgeschäft. Er zog 1918 nach Berlin, wo er für eine Textilfirma tätig war. Seine Ehefrau folgte ihm mit den Kindern 1920 nach Berlin. Seit etwa 1933 lebten sie in einer 3-Zimmer-Wohnung im Haus Kottbusser Ufer 60 (heute Fraenkelufer 36).
Hermann Pazer wurde am 28. Oktober 1938 im Rahmen der sogenannten „Polenaktion“ aufgrund seiner polnischen Staatsangehörigkeit verhaftet und über die polnische Grenze nach Zbąszyń abgeschoben. Dort wurde er für mehrere Monate interniert, bevor er in seine Geburtsstadt Warschau weiter konnte. Paula Pazer, die in Berlin zurückgeblieben war, folgte ihrem Ehemann nach Polen. Nach der Besetzung Warschaus durch die deutsche Wehrmacht wurden ab November 1940 die Juden und Jüd*innen der Stadt im Warschauer Ghetto eingesperrt. Die menschenunwürdigen Bedingungen dort forderten mehr als 80.000 Todesopfer – unter ihnen auch Hermann und Paula Pazer.
Die Tochter Romana wurde mit ihrem Ehemann Martin Deutsch (*1911 in Zempelburg) und ihrer Tochter Eveline Sylvia (*1938) am 17.11.1941 von Berlin nach Kowno (Litauen) deportiert und dort am 25.11.1941 erschossen. Hermann und Paula Pazers Sohn Josef war 1934 nach Dänemark und von dort 1935 nach Palästina ausgewandert.