Sonntag, 8. Oktober 2023 I10:40 Uhr und 11:25 Uhr
Der Künstler Gunter Demnig verlegt am 8. Oktober 2023 neun weitere Stolpersteine in Friedrichshain-Kreuzberg. Bisher sind im Bezirk rund 1.000 Stolpersteine verlegt worden.
Um 10:40 Uhr werden in der Alten Jakobstraße Str. 134 fünf Stolpersteine für Joseph und Stefanie Boholle sowie Josefa, Cornelis und Peter van der Want verlegt, die hier von ca. 1939 bis 1943 lebten.
Dies sind die ersten Stolpersteine zum Gedenken an Schwarze Menschen, die in Friedrichshain-Kreuzberg verlegt werden. Die Erfahrungen Schwarzer Menschen im Nationalsozialismus fehlen bis heute nahezu gänzlich im öffentlichen und historischen Gedächtnis – aber die Beweise sind eindeutig: Schwarze Menschen wurden von den Nationalsozialisten verfolgt.
Josef Bohinge Boholle wurde 1880 in Kribi, Kamerun geboren. 1896 kam er als Teilnehmer der Berliner Kolonialausstellung nach Berlin. Nach der Ausstellung begann Josef eine Ausbildung bei einem Bernsteinmeister in Danzig (Gdansk) und ließ sich anschließend in Berlin nieder. Hier arbeitete er als Zimmermann. Er und seine Partnerin Stephanie heirateten 1909. Stephanie (*1885, geb. Urbanowski) kam aus Lodz (damals ein Teil von Russland) und arbeitete als Aufwärterin (frühere Bezeichnung für Haushälterin). Das Paar bekam drei Kinder Josefa Luise (*1907), Rudolf Bohinge (*1910) und Paul Artur (*1911), um deren Erziehung sich Stephanie kümmerte.
Josef bemühte sich für sich und seine zwei Söhne 1926 um die deutsche Staatsbürgerschaft, auch Tochter Josefa bewarb sich. Sie war mittlerweile eine Tänzerin mit zunehmender Bekanntheit. Da sie als Künstlerin ins Ausland reisen wollte, war für sie der Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft von großer Bedeutung. 1928 erhielten die Boholles die deutsche Staatsbürgerschaft. Sie gehörten zu den wenigen afro-deutschen Familien, deren diesbezügliche Bemühungen erfolgreich war. Die Söhne Rudolf und Paul heirateten 1932 bzw. 1934 und gründeten eigene Familien. Josefa heiratete 1934 den Deutschen Julius Schulte. Die Ehe wurde 1942 geschieden.
Im Verlauf der 1930er Jahre arbeiteten die drei Kinder der Boholles im Showgeschäft. Ihre Beschäftigungsmöglichkeiten wurden zunehmend begrenzt durch die nationalsozialistische Politik, die den deutschen Kulturbereich kontrollierte und die Möglichkeit von „Nicht-Ariern“ beschränkte, öffentlich aufzutreten. Alle drei waren kurze Zeit Teil der durch die Nationalsozialisten geförderten sogenannten „Deutschen Afrika-Schau“. Auch Josef trat dort auf. 1935 wurde der Staatsbürgerstatus der Boholles einer strengen Prüfung durch die Berliner Polizei unterzogen. Die Familie konnte den Status als deutsche Staatsbürger behalten – wahrscheinlich lagen außerordentliche Umstände vor, nämlich Josefs kolonialer Hintergrund in Zusammenhang mit der Hoffnung des nationalsozialistischen Deutschlands, die Vereinbarungen des Versailler Vertrages zu revidieren. Das mag erklären, warum Josefa als sogenannte „Nicht-Arierin“ den niederländischen Variete-Artisten Cornelis van der Want im August 1943 heiraten konnte, obwohl dies den Bestimmungen der „Nürnberger Gesetze“ widersprach. Das Paar hatte bereits einen Sohn, Peter (*1939).
Im März 1943 wurde das Haus in der Alten Jakobstraße 134 bei einem Bomberangriff der Alliierten zerstört. Josefa, Cornelis, ihr Sohn Peter und Stephanie zogen nach Bromberg (heute Bydgoszcz/ Polen), wohin Cornelis bestellt wurde, um eine Dienstverpflichtung als Bühnenarbeiter zu erfüllen. Josef scheint nicht mitgegangen zu sein. Wahrscheinlich war er zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben. In Bromberg wurden Cornelis und Josefa im November 1944 von der Gestapo wegen „Abhörens von feindlichen Sendern“ verhaftet. Möglicherweise waren aber ihre sogenannte „Mischehe“ und Cornelis Verbindungen zu Widerstandsgruppen ausschlaggebend. Beide kamen ins Konzentrationslager Stutthof. Wenige Wochen später wurde auch Stephanie verhaftet, die Begründung dafür ist nicht bekannt. Ihr vierjähriger Enkel Peter blieb allein in der Familienwohnung zurück. Nachbarn halfen ihm, indem sie Familienangehörige oder Freunde der Familie kontaktierten – wen genau, ist nicht mehr rekonstruierbar.
Stephanie Boholle überlebte nicht. Unbekannt ist, ob sie im Gestapo-Gefängnis in Bromberg starb oder ins KZ Stutthof deportiert wurde. Cornelis, Josefa und ihr Sohn Peter überlebten diesen Leidensweg. Josefa starb am 2. Juni 1955 an den chronischen Erkrankungen, die von ihrer Zeit im Konzentrationslager Stutthof herrührten. Ihre Brüder Paul und Rudolf Boholle überlebten.
Die Lebensgeschichten von Menschen, die im kolonialen Kontext nach Berlin gekommen und mitunter auch im NS-Deutschland geblieben sind, wurden in der Ausstellung „TROTZ ALLEM. Migration in die Kolonialmetropole Berlin“ (2022-2023; eine Kooperation des Projekts Dekoloniale Erinnerungskultur in der Stadt und des FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museums) thematisiert. Dabei standen die Erfahrungen der Familie Boholle und die von fünf weiteren Familien im Mittelpunkt.
Diese Stolpersteinverlegung wird unterstützt und begleitet von Berlin Postkolonial e.V., der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) e.V. und Musiker:innen von „Sauti é Haala“. Bezirksbürgermeisterin Clara Herrmann wird bei dieser Verlegung teilnehmen.
Recherche und biografische Zusammenstellung: Robbie Aitken, Historiker.
In der Reichenberger Straße 86 wird um 11:25 Uhr mit der Verlegung von vier Stolpersteinen Sally, Frida, Kurt und Hildegard Fabian gedacht. Die jüdische Familie lebte hier bis zu ihrer Auswanderung 1933/34.
Sally Fabian (*1872 in Neustettin / Pommern) studierte in Würzburg Medizin, ließ sich dann in Berlin nieder und gründete 1908 in der Reichenberger Straße 86 eine eigene Praxis. Im selben Jahr heirateten er und Frida Simon (*1886 in Dresden). Das Ehepaar bekam 2 Kinder: Kurt (*1909) und Hildegard (*1913).
Aufgrund der zunehmenden Entrechtung und Verfolgung von Jüdinnen*Juden seit 1933 entschloss sich die Familie auszuwandern: Hildegard Fabian verließ Deutschland schon 1933 und ging nach Paris. Dort heiratete sie den deutsch-jüdischen Flüchtling Gerhard Spiegel und wanderte mit ihm 1938 in die USA aus. Kurt Fabian emigrierte 1934 nach Brasilien, nachdem er sein Jura-Studium aufgrund seiner jüdischen Abstammung in Berlin nicht abschließen konnte. Dr. Sally Fabian und seine Frau Frida flohen 1934 nach Frankreich und folgten ihrem Sohn 1935 nach Brasilien.
1946 siedelten Sally und Frida Fabian zu ihrer Tochter nach Glencoe, einem Vorort der US-Metropole Chicago über, wo Dr. Sally Fabian 1948 starb. Seine Frau Frida kehrte 1964 nach Berlin zurück und starb dort ein Jahr später.
Kurt war bereits 1947 nach Berlin zurückgekehrt, schloss sein Jura-Studium ab und war bis zu seiner Pensionierung Richter am Amtsgericht Zehlendorf. Dr. Kurt Fabian verstarb 1979 in Berlin, Hildegard Spiegel 2014 in den USA.
Recherchen und biografische Zusammenstellung: Christiana Hoppe, Stolperstein-Initiative Friedrichshain-Kreuzberg